Galway Hunters: Jagtfieber

 

Kapitel 1

                                                            

Legends of the Otherworld. Mit Bedacht nahm Michael O‘Hara das Buch aus der Kiste. Eine Ewigkeit hatte er es nicht mehr in den Händen gehalten – dabei war es in Kindertagen doch ein solch treuer Begleiter für ihn gewesen. Sogar ein Lesezeichen befand sich noch zwischen den Seiten.

Mit den Fingern strich er über den braunen Ledereinband, verharrte kurz an der Prägung des Titels und zog nachdenklich die verschnörkelten, beigefarbenen Linien nach.

Ruby. Wie oft hatte sie sich nach Feierabend die Zeit genommen und ihm die Geschichten aus dem Buch vorgelesen. Und obwohl er bald jede einzelne Legende auswendig konnte, war er jedes Mal aufs Neue gefesselt gewesen, wenn sie ihm von den vielen übersinnlichen Wesen und ihren Abenteuern erzählt hatte.

Michael konnte sich noch verdammt gut daran erinnern, wie er sich früher bei jeder ausgefallenen Wimper gewünscht hatte, Ruby wäre seine Grandma, und dass sie ihn mitnehmen würde, raus aus diesem großen, lieblosen Kasten, der sich sein Elternhaus schimpfte.

Michael schlug das Buch auf und begann zu blättern … Cave of the Cats … Cú Chulainn … Ethna, the Bride … Grace Neill’s Bar …  Leap Castle … Moor Hall … The Children of Lír … The Grey Claw … The Legend of Knockgrafton … St. Katherine’s Nunnery … The death of Cuchulainn … The Green Man … 

Im letzten Drittel fand er einen zusammengeklappten, vergilbten Zeitungsausschnitt zwischen den Seiten. Michael faltete ihn vorsichtig auf …

Richtig, er hatte das Blatt selbst in das Buch gelegt. Nur wenige Wochen nach dem Outing der Paranormalen. Was für eine Aufregung damals wegen der parakritischen Kolumne PARAde aufgekommen war.

  

Apropos Samhain

 

Eine PARAde von Kate Breathnach, 31. Oktober 2005

Geht es Ihnen nach dem Outing der paranormalen Wesen, an einem Tag wie diesem, ähnlich wie mir und Sie fragen sich, was denn nun der Mythologie angehört und was real ist? Kommen heute Nacht wirklich die Bewohner der Anderswelt in die Unsere, um unsere Gastfreundlichkeit auszunutzen, Angst und Schrecken zu verbreiten, den Tod zu bringen, um unsere Kinder gegen Wechselbälger zu tauschen – oder sind das wie bisher geglaubt, nur Ammenmärchen aus vergangenen Tagen? Wie real ist die Gefahr? Sind wir im Schein der Samhainfeuer sicher oder unterliegt auch das nur dem Aberglauben? Müssen wir unsere Häuser mit der Samhainglut in den Herden vor Geistern und Dämonen sichern, oder bringt das rein gar nichts?

Fragen über Fragen, die ich mir an einem Tag wie diesem stelle, wenn ich am John F. Kennedy Memorial Park entlanggehe und dort die Vorbereitungen für das alljährliche nächtliche Samhainfeuer beobachte, dessen Glut dann im Morgengrauen in unsere Herde getragen wird.

Apropos. Wie verträgt sich eigentlich das Renvyle House mit dem wichtigsten Schutzfeuer des Jahres, in dessen Schein es sich heute Nacht dann wieder einmal befindet? Das Eckhaus gehörte ursprünglich dem bekannten Schriftsteller Jonathan Renvyle, der dort gelebt und gearbeitet hat, bis er 1847 auf ungeklärte Weise spurlos verschwand. Nach heutigem Wissen liegen Vermutungen nahe, dass paranormale Wesen zu seinem Schicksal beigetragen haben. Seit damals existiert eine Vielzahl von Geschichten und Gerüchten. Die wohl bekannteste besagt, er habe den Tod seiner geliebten Frau und Tochter nie überwunden, sich deshalb selbst das Leben genommen und sein Geist harre seither in einem der Zimmer aus, da er seine Familie im Jenseits nicht hatte finden können. Andere hingegen meinen zu wissen, dass er auf grausame Weise ermordet, und seine Leiche sorgfältig im Haus versteckt wurde. Wenn sich die altbekannten Legenden nun als Wirklichkeit erweisen, und es in dem Eckhaus tatsächlich spuken sollte, würde dies bedeuten, dass die entzündeten Feuer uns keinen Schutz vor Geistern, Hexen und Dämonen bieten können. Und ich für meinen Teil wäre äußerst daran interessiert zu wissen, ob wir dem Sprichwort – Wenn du ein Gespenst siehst und davor wegläufst, verfolgt es dich. Wenn du aber darauf zugehst, verschwindet es – auch weiterhin vertrauen können oder nicht.

Licht ins Dunkel, hinsichtlich der Frage, könnte der – paranormale und anonyme – Eigentümer bringen, der das Haus bereits Mitte der 1970er Jahre erworben haben soll. Leider erklärte dieser sich aber nicht bereit, Angaben über das Haus und seinen eventuellen Bewohner zu machen. Warum? Weil das Gespensterhaus den Beweis erbringen würde, dass wir uns mit den entzündeten Feuern nicht vor dem Übernatürlichen schützen können und es überhaupt nichts bringt, alte Traditionen – wie jene, die Samhainglut in unsere Herde zu tragen – wieder aufleben zu lassen? Oder fürchtet er angesichts der häufigen Zwischenfälle in Erklärungsnot zu gelangen, sollte es in dem alten Eckhaus nicht spuken?

 

Michael musste lächeln. Nein, fürchtet er nicht. Die abgebildete Schwarzweißfotografie des zweistöckigen Eckhauses in Kates Kolumne wies kaum Unterschiede zu der detailgetreuen Kohleskizze in seinem Buch auf – als stammten beide aus derselben Zeit. Wie düster das Haus auf den Bildern dargestellt wird. In Wirklichkeit verhielt es sich jedoch ganz anders.

Ein jaspisroter Fassadenanstrich mit weiß lackierten Fensterrahmen und dem kleinen Vorgarten, in dem sich jede Menge nützliche Kräuter und Wiesenblumen befanden, verliehen dem Gebäude einen warmen und einladenden Eindruck.

Aber natürlich passte der finstere Eindruck viel besser, sowohl zur Stimmungsmacherei von Kates Kolumne, als auch zu der Legende.

  

The Renvyle House

 

Der Eyre Square, inmitten der Küstenstadt Galway, so erzählt man sich, ist von jeher ein Platz voller Lebensenergie und Frieden. Menschen, die einmal um jenes Karree mit all den schönen bunten Fassaden gegangen, oder durch den Park spaziert sind, werden sich gewiss gerne an manch nette Begegnung mit den freundlichen Einheimischen erinnern. Vielleicht haben sie im Schatten der alten Eiche gesessen, den unzähligen Geschichten lauschend, wie diese von Padraig O‘Conaire schon vor langer Zeit erzählt wurden.

 Jedoch wird ihnen auch der Schauer im Gedächtnis bleiben, angesichts des verlassenen Hauses, welches sich am unteren Ende der Straße befindet, ist man die An Fhaiche Mhòr entlanggegangen. Das Unbehagen der Menschen kommt nicht von ungefähr –

 

Ein Klopfen an der Haustür ließ Michael aufschauen.

Er schloss das Buch, stellte es im alten Eichenregal neben die ledergebundene Erstausgabe Epitome of Paranormal Magic und ging in den Flur.

Durch die in der Tür eingelassenen Buntglasscheiben sah er einen Kerl mit schwarzen Haaren und dunkler Lederjacke, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Sah der Typ sich die Gegend an oder war es ein Check, ob er verfolgt wurde? Jetzt drehte der Kerl sich herum. Als er Michaels Blick begegnete, nahm er seine Sonnenbrille ab und strich sich über den zurechtgestutzten schwarzen Bart.

Duncan McClary? Woher, zum Geier, wusste der Daywalker denn, wo er zu finden war? Wollten Duncan oder Liam ihn etwa als Privatdetektiv engagieren? Gut möglich. Schließlich war bisher nur einer Handvoll Leuten bekannt, dass er diesen Job an den Nagel gehängt hatte. Tja, da würde er die beiden wohl enttäuschen müssen. Michael öffnete die Tür. »Hey. Was treibt dich denn her?«, begrüßte er Liams Sicherheitschef und trat beiseite.

»Hallo, Michael.« Der Daywalker schüttelte ihm die Hand und betrat den schmalen, weiß gestrichenen Flur. »Du hast es also tatsächlich gekauft.«

»Yepp.« Michael deutete mit dem Kopf zu Renvyles ehemaligem Büro. »Komm, gehen wir hier rein.«

Duncan folgte ihm und sah sich im Raum um. »Ich sehe, du hast die ursprüngliche Einrichtung beibehalten. Finde ich gut.«

Michael beobachtete, wie der Blick des Daywalkers über den Eichenschreibtisch mit dem Ledersessel dahinter und dem Stuhl mit Holzschnitzerei davor glitt, und dann weiter zu den Bücherregalen wanderte. »Beachtliche Sammlung«, stellte Duncan fest, als er die Umzugskisten mit Wälzern zur Anderswelt und deren Bewohner entdeckte.

»Um eine Bibliothek damit zu eröffnen, dürften wohl noch ein oder zwei Bände fehlen.« In der Ablenkung lag ein Hauch Wahrheit. Ein paar Bücher, wie The Discovery of the Three Kingdoms of the Otherworld, standen tatsächlich auf seiner dringlichsten Wunschliste. »Setz dich doch.« Er selbst nahm in seinem neuen Lieblingsstück, Renvyles Ledersessel, Platz. »Also? Wegen des Hauses bist du sicher nicht gekommen?«

»Nein«, erwiderte Duncan und lächelte. »Obwohl – nach so langer Zeit …«

»Ach … du kennst es? Von früher?«

»Allerdings.« Duncan lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich bin hier, um auf dein Angebot zurückzukommen.«

»Mein Angebot?« Michael musste einen kurzen Augenblick überlegen. »Welches?

»Damals. Im Caer Hafgan. Uallas. Du erinnerst dich?«

Und wie er sich erinnerte. Wenn der Kobold mal nicht für genügend Aufregung gesorgt hatte …

 

»Glaub mir, ich habe bezahlt«, versicherte er wiederholt dem neuen Barkeeper. Irgendwo über ihm erklang ein schadenfrohes Kichern, das trotz der wummernden Bässe deutlich zu hören war. Ein Blick nach oben. Aha. Dachte er es sich doch.

»Du willst behaupten, Uallas sei blöd und kann sich nicht mehr daran erinnern, was noch vor ein paar Minuten war? Ein Zechpreller, das bist du!«

Dass Leprechauns immer in der dritten Person von sich sprechen mussten. Schlimm.

Der Neue funkelte ihn bitterböse an. Die Spitzen seines feuerroten, wirr zu allen Seiten abstehenden Haares zitterten – ein absolut untrügliches Zeichen für Leprechaun-Zorn.

Im Prinzip traf seine Bemerkung aber den Nagel auf den Kopf – nur, dass die Ursache eben nichts mit der Intelligenz des Koboldes zu tun hatte. »Natürlich nicht«, erwiderte er ruhig. »Aber schau mal nach oben.«

Die Zornesröte im Gesicht des Leprechauns nahm schlagartig zu. »Jetzt hat Uallas aber genug! Auf so einen albernen Trick fällt er nicht herein!«

Also das war jetzt wirklich lachhaft! »Du glaubst –«

Ein grüner Lichtblitz traf ihn. »Au!« Er machte einen Satz zurück. »Verdammte Scheiße!« Der elektrische Schlag des Leprechauns hatte es ganz schön in sich!

»Uallas? Michael? Was gibt es für Probleme?«, erklang Duncans Stimme hinter ihm.

Erleichtert atmete er auf. »Euer Barkeeper will mir nicht glauben, dass ich meinen Drink bereits bezahlt habe.«

»Das hat der Mensch auch nicht! Uallas weiß das genau! Uallas ist nicht blöd!« Der Leprechaun war fuchsteufelswild, hüpfte auf und ab, konnte sich kaum im Zaum halten. 

Er deutete mit einem kurzen Blick hinauf, wo immer noch das jetzt schon beinahe boshafte Kichern zu hören war.

Duncan schüttelte den Kopf, wandte sich dem Leprechaun zu. »Uallas. Michael O‘Hara ist hier Stammgast. Wenn er sagt, er hat bezahlt, dann ist das auch so. Wenn du –«

Der Kobold begann zu toben, richtete seinen Zorn auf den Sicherheitschef. »Nein! Uallas weiß das genau. Uallas ist –«

»– dem Scherz eines Fairies zum Opfer gefallen«, vollendete der Daywalker den Satz seelenruhig. »Schau hoch und du weißt es.«

Der Blick des Leprechauns schoss nach oben, wo ein kleiner Fairy jetzt lauthals lachte und sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Seine durchsichtigen Flügel zitterten beim Schlagen bereits vor boshafter Heiterkeit. Schön, dass hier wenigstens einer seinen Spaß hatte. Der Elektroschock brannte immer noch wie Feuer und die Lederjacke konnte er dank des Brandlochs auch vergessen.

Dass sich diese Feenwesen weitab von jeder niedlichen Tinkerbellvorstellung befanden, war den Menschen nach dem Outing auch recht schnell klargeworden. Kein Wunder, dass die Einschaltquoten der Filme, in denen sie eine Rolle spielten, rapide in den Keller gesunken waren.

Der Leprechaun setzte einen weiteren Lichtblitz frei. Dieses Mal in Richtung Decke. Allerdings verfehlte er sein Ziel.

»Uallas! Es reicht jetzt! Du kannst nicht –« Duncans Worte gingen in einem Elektroschlag unter, der dieses Mal ihm galt. Wenn der Daywalker nun sauer war, zeigte er es jedenfalls nicht. In einer einzigen schnellen und doch ruhig wirkenden Bewegung griff er über die Theke, packte den tobenden Uallas am Kragen und holte ihn zu sich auf die andere Seite. Er zog das einen Meter dreißig kleine Zornpaket an sich heran, legte ihm die freie Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihm hinab. »Du hast jetzt doch ganz sicher vor, dich auf der Stelle zu beruhigen, da im Grunde genommen überhaupt nichts passiert ist. Über die Späße eines Fairies kannst du nur müde lächeln. Natürlich hat Michael schon bezahlt, und es tut dir ganz schrecklich leid, dass du ihn fälschlicherweise verdächtigt hast, er wolle die Zeche prellen. Seine Jacke ersetzt du, das versteht sich von selbst, oder?«

Der Leprechaun wirkte von einem Augenblick zum anderen wie ausgewechselt.

Magische Fähigkeit oder schlichter Respekt?

Uallas sah über seine Schulter zu Duncan auf, der ihn losließ. Dann blickte er zu dem Fairy, welcher an der Decke noch immer gehässig lachte, und sah letztendlich zu ihm herüber. Ein knappes Kopfnicken. Mit grimmiger Miene kramte der Kobold in seiner Jacke und warf ihm eine Goldmünze zu. »Sollte reichen um Uallas‘ Schuld zu begleichen.«

»Ich will hoffen, dass es eine Münze von Bestand ist.« Warnend sah Duncan den Leprechaun an.

Trotz erschien im Gesicht des Kobolds. »Pah! Ist Uallas etwa ein Lumpensack?!« Dann trollte er sich davon.

Was sagte man dazu? Eine wahre Seltenheit, dass ein Leprechaun freiwillig einem Menschen eine Goldmünze überließ. Also eine echte, nicht eine von den magischen, die stets zu ihnen zurückkehrten, für welche die Kobolde berüchtigt waren. Definitiv mentale Beeinflussung von Duncan. Das stand fest.

Der Sicherheitschef wandte sich jetzt wieder ihm zu. Seine rechte Schläfe hatte ordentlich was abbekommen – ganz schön verbrannt die Haut. Jedenfalls für einen kurzen Moment.

Wirklich irre, diese Selbstheilungskraft der Daywalker.

»Entschuldige, Michael. Aber du weißt ja, wie das mit neuem Personal ist. Die Fairies können sich mit ihren Späßen einfach nicht zurückhalten und lassen die Neuen zu gerne mit ihrem Feenstaub Bekanntschaft machen.«

Er winkte ab. »Quatsch, du musst dich nicht entschuldigen. Im Gegenteil: Ich habe zu danken. Wer weiß, wie viele Stromschläge ich noch kassiert hätte, wenn du nicht dazwischen gegangen wärst.«

Duncan lachte. »So hat er es wenigstens gleichmäßig verteilt.« Der Daywalker sah in die Richtung, in welche Uallas verschwunden war. »Aber diese humorlosen Kobolde können manchmal wirklich anstrengend sein.«

»Na, wenn du einmal die Nase voll haben solltest«, erwiderte er, »kannst du gerne jederzeit in meiner Detektei anfangen. Leute wie dich kann ich gut gebrauchen.«

 

Und da saß er nun. »Natürlich erinnere ich mich und das Angebot war auch mein Ernst. Aber ich habe die Detektei aufgegeben und bin gerade dabei, eine Hunteragentur aufzubauen.«

»Für Paranormale Fälle – ich weiß. Die Annonce in der Galway Independent war nicht zu übersehen.«

Das erklärt, woher er weiß, wo ich zu finden bin – nicht aber, dass ich das Haus gekauft habe. Warum hat er sich diese Mühe gemacht? Und Duncan liest die Galway Independent?

Michael beugte sich in seinem Ledersessel nach vorne und blickte ihm prüfend in die kohlrabenschwarzen Iriden. Selbstbewusstsein. Gelassenheit. Mehr war der Daywalker auf der anderen Seite des Eichenschreibtischs nicht bereit preiszugeben. »Du willst also wirklich deinen Job bei Liam aufgeben, um bei mir als Kopfgeldjäger anzufangen?«

»Nicht, ich will. Ich habe. Heute«, korrigierte Duncan, ruhig, sachlich.

Michael atmete tief aus. Okay, das war ja mal eine Ansage. »Du weißt aber schon, dass es einen gravierenden Unterschied gibt, zwischen dem Job eines Sicherheitschefs und der Arbeit eines Bounty Hunters, oder?«

Auf Duncans Lippen stahl sich ein amüsiertes Lächeln. »Du meinst, außer der Tatsache, dass sich der Arbeitsplatz von über fünftausend Quadratmeter auf ganz Irland ausweitet und es im Gegensatz zum Caer Hafgan in deinem Kühlschrank höchstwahrscheinlich Bier geben wird? Ja, sicher.«

Er musste schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst. »Und Liam hat deine Kündigung einfach so hingenommen?«

Duncan zuckte mit den Schultern. »Natürlich, aber ich bin ja nicht sein Eigentum.«

Nein, das nicht. Aber der Sidhe akzeptierte Entscheidungen in der Regel nur dann, wenn er sie selbst getroffen hatte. Nie und nimmer ließ er seinen besten Mann einfach so ziehen. Skeptisch nahm Michael die Lucky Strike Schachtel vom Tisch, zog eine Zigarette heraus und zündete sie an.

Duncan lehnte sich vor. »Ich habe die letzten Jahrzehnte mit und für Liam gearbeitet. Es wird endlich Zeit für eine Veränderung.«

Und das fällt dir genau an dem Tag ein, wo meine Stellenanzeige in der Zeitung erscheint? »Hmmm.« Michael nahm einen weiteren Zug von seiner Kippe und drückte sie, nicht einmal halb geraucht, im Aschenbecher aus.

»Willst du ein Arbeitszeugnis?« Fest entschlossen erwiderte Duncan seinen Blick.

»Quatsch. Von deinen Qualitäten musst du mich wirklich nicht überzeugen.« Michael erhob sich aus seinem Ledersessel und ging um den massiven Schreibtisch herum auf Duncan zu, der ebenfalls von seinem Stuhl aufstand. »Komm, ich zeige dir das Haus. Mal sehen, ob sich viel verändert hat, seit du das letzte Mal hier gewesen bist.«

»Gerne. Ich bin gespannt.«

Sie gingen zurück in den schmalen Flur. Dort öffnete Michael die Tür des Nachbarzimmers. »Kennst du den? Ist der ehemalige Hauswirtschaftsraum.«

Duncan schüttelte den Kopf. »Nein, das war ja Ellens Bereich. Wenn ich zu Besuch war, saßen Jonathan und ich in seinem, also jetzt deinem Büro.«

»Du kennst Renvyle? Persönlich? Von damals?« Was sagte man denn dazu?

»Ja, sicher.« Verwundert sah Duncan ihn an. »Sagte ich doch, dass ich früher schon hier im Haus war.«

»Bei früher dachte ich nicht unbedingt an Mitte des 19. Jahrhunderts.« Alle Achtung, da war Duncan Galway aber lange treu geblieben. Oder zurückgekehrt? Und das trotz der Gefahr entdeckt zu werden, in der sich jeder Para vor dem Outing noch befand.

»Ich habe Jonathans Werke immer sehr gemocht und mich gerne mit ihm darüber ausgetauscht.« Duncan betrat das Zimmer, das Michael vorerst als Abstellraum benutzte. »Was willst du daraus machen?«

»Ein weiteres Büro. Das heißt, sobald ich den ganzen Kram hier weggegeben habe.«

»Du willst das doch nicht ernsthaft alles hergeben, oder?«

Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich damit? Das Werkzeug ist nicht mehr zu gebrauchen, die Hauswäsche verbraucht, teils löchrig.«

Ein leises Schnalzen von Duncan. »Für alles gibt es irgendwann eine Verwendung. Das Werkzeug zum Beispiel, wenn ich das ein wenig aufarbeite, ist es ein wunderbarer Wandschmuck.«

»Ja, für einen Handwerker vielleicht.« Grinsend lehnte sich Michael an den Türrahmen. »Aber in einem Hunterbüro?«

»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Wäre es mein Büro, mir würde es gefallen.«

»Tatsächlich?« Welcher Beschäftigung er wohl vor seiner Zeit bei Liam nachgegangen war? Steinmetz? Zeugschmied? Büchsenschäfter? Passen würde es zu ihm. Ja, eine Zusammenarbeit mit ihm konnte er sich immer besser vorstellen. »Wenn du tatsächlich bei mir anfangen willst, kannst du das Zimmer gerne als Büro nehmen und dir als Dekoration aufhängen, was immer dir gefällt.«

Duncan griff einen großen verrosteten Hufschmiedehammer und hielt ihn schmunzelnd an die Wand. »Nett, oder?«

»Hmhm. Solange du hier nicht das zu beschlagende Pferd dazu mit unterbringen willst.«

»Das ist ein Schwertschmiedehammer, keiner für die Hufeisenbearbeitung«, erwiderte Duncan und strich wehmütig über das rostige Eisen.

Dieser Arbeit ist er damals also nachgegangen. Da lag ich mit meiner Vermutung ja gar nicht so verkehrt.

»Wie viele Hunter soll dein künftiges Team eigentlich umfassen?«

»Dreier-, maximal Viererteam.«

»Klingt gut.«

»Komm, ich zeige dir noch die beiden anderen Räume, die ich als Büros vorgesehen habe.«

Michael öffnete die Nachbartür. »Das hier war das Gesellschaftszimmer für die Mieter.«

»Nett. Ist mir für ein Büro aber zu groß …« Duncans Blick wanderte über den mit Figuren bestückten Schachtisch, die Sitzgruppe mit den beiden gestreiften Sesseln und den mit grünem Stoff bezogenen Poker – oder für Bridge gedachten – Spieltisch. »… und zu verspielt.«

»Wohl nicht ganz dein Metier?«

»Nein, eher nicht.« Belustigt zog Duncan die Augenbrauen in die Höhe. »Und natürlich würde ich niemals gegen das Spielverbot für Paras verstoßen.«

Na sicher. Aber für eine Runde Poker war der Daywalker ganz offensichtlich nicht zu begeistern. Schade.

»Wo befindet sich eigentlich das Zimmer? Hier unten im Erdgeschoss oder …«, hakte Duncan nach, während sie zum Flurende durchgingen, wo sich nur noch ein Raum, die Treppe und der Ausgang zum Mauergarten befanden.

»Nein, das ist oben im ersten Stock.«

»Besser so. Nicht auszudenken, wenn man ständig darauf achten muss, dass nicht irgendwer gedankenlos hineinrennt.«

»Allerdings.« Michael öffnete die Tür des Zimmers, das damals als einziges im Parterre vermietet worden war.

 »Das soll von einem seltsamen Kauz bewohnt gewesen sein, der eines Tages auftauchte und von dem niemand wusste, woher er kam und was genau er eigentlich trieb.«

Duncan betrachtete das spartanisch eingerichtete Zimmer mit Bett, Schreibtisch und Schrank. Der Blick des Daywalkers blieb an dem Gemälde Báisteach na mothúcháin hängen, welches sich an der Wand hinter dem Tisch befand und zu den wenigen Gegenständen hier im Haus gehörte, die eindeutig nach Renvyles Zeit Einzug gehalten hatten. Dem Stil nach zu urteilen, handelte es sich um ein Gemälde, das um die 1970er Jahre herum entstanden sein musste.

»Regen der Gefühle«, murmelte Duncan und machte dabei ein wehmütiges Gesicht, als würde der Titel eine ganz bestimmte Erinnerung in ihm wachrufen.

Ja, einen treffenderen Namen hätte man diesem Gemälde mit dem silbernen, tiefroten und schwarzen Regenschauer – der ohne Weiteres auch als Tränenfluss interpretiert werden konnte – wirklich nicht geben können. Warum es allerdings ausgerechnet in diesem Zimmer aufgehängt worden war, interessierte ihn noch immer brennend.

»Ein seltsamer Kauz, sagst du?« Duncan schüttelte den Kopf. »Nach Jonathans Tod wurde die Pension von keinem der wechselnden Besitzer fortgeführt. Und davor … Nein, da war niemand, den wir als Kauz bezeichnet hätten.«

»Du kannst dich an die Mieter noch erinnern?« Respekt, schließlich war das ein paar Jährchen her.  »«

»Ihre Gesichter sind mir noch präsent.« Ein tiefes Durchatmen von Duncan. »Die große Hungersnot damals vergaß niemanden – ganz besonders in Galway nicht. Wenn du in solche Gesichter blickst …« Duncan drehte sich weg.

Aber Michael war der Schmerz in seinen Augen nicht entgangen. Es musste grausam sein, einem solch übermächtigen Feind gegenüberzustehen, gegen den man nichts, aber auch gar nichts ausrichten konnte … 

Die plötzlich entstandene Stille lastete schwer und Michael schluckte gegen den Kloß an, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Verdammt – was sollte er sagen?

»Woher hast du die Information mit dem seltsamen Kauz?«, unterbrach Duncan die Stille nun wieder mit fester Stimme.

»Hab‘ einige Nachforschungen angestellt – eine typische Jobkrankheit. Die in der Sicherheitsbranche wohl eher nicht üblich ist.«

Ein Lächeln von Duncan. »Von ein paar speziellen Kandidaten abgesehen, über die man sich informiert … allerdings.«

Zurück im Flur ging Michael vor dem Daywalker die schmale Treppe hinauf. »Die Zimmer im ersten Stock habe ich ebenfalls belassen, wie sie waren und nur die Matratzen ausgetauscht. Dann können sich die Mitarbeiter mal aufs Ohr hauen, wenn sie müde sind.«

»Wohnst du auch hier auf der Etage?«

»Nein, ich hab‘ mich oben im Dachgeschoss eingerichtet.« Er öffnete die erste Tür auf der linken Flurseite. »Das Zimmer hat einer adligen Witwe gehört, die von ihrer Familie verstoßen wurde, weil sie den falschen Mann liebte. Er gehörte keinem der vierzehn Stämme Galways an und die Familie war entsprechend empört, dass sie ihn trotz des ausdrücklichen Verbotes geheiratet hat. Sagt dir die Geschichte was?«

Duncan nickte ernst. »Die jüngste Tochter der Kirwans. Ihr Name war … Fiona, nein, Fianna. Eine wirklich warmherzige Frau, die es nicht verdient hat, so von der Gesellschaft geächtet zu werden. Aber manche Dinge ändern sich bedauerlicherweise nie.«

»Ja, leider.« Diese Regeln hatten nicht nur beim menschlichen Adel Gültigkeit, sondern galten auch in den Reichen der Anderswelt. Allen voran Lochlann. Phänomenale, hellblaue Augen und ein Lächeln, das ihn jedes Mal beinahe um den Verstand brachte, tauchten in seinem Geist auf. Mairéad … 

Ein leichtes Kopfschütteln. Er musste loslassen. Endlich.

Michael deutete zum Schreibtisch, auf dem das vergilbte Bündel mit Liebesbriefen lag, das er hier unter der losen Diele vor dem Bett gefunden hatte. »Von Fianna. An ihren verstorbenen Mann. Und wie sie ihm schreibt, muss zumindest der Mieter vom gegenüberliegenden Zimmer eine andere Meinung gehabt haben. Sie erzählt in den Briefen, er sei Handwerker und sie würden viel Zeit miteinander verbringen. Ganz platonisch, da sie ihn noch immer so sehr lieben und jeden Tag vermissen würde.«

Bei seinen Worten verdunkelte sich Duncans Miene für einen kurzen Augenblick, dann deutete er mit dem Kopf zum Ende des Ganges. »Welches der beiden Zimmer ist es denn, in dem Jonathan sich umgebracht hat?«

»Hast du das damals nicht mehr mitbekommen?«

»Nein, ich bin kurz zuvor von Galway weggezogen, habe es erst im Nachhinein erfahren.«

Ja, das extrem langsame Altern der meisten Paras ab dem Erwachsenenalter machte es ihnen vor dem Outing leider immer wieder notwendig, in regelmäßigen Abständen umzuziehen. »Das Linke.«

»Warst du mal drinnen?« 

Michael schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Wollte erst den Umzug erledigen und mich dann in Ruhe meinem Mitbewohner vorstellen.«

»Kann ich verstehen. Ist das Zimmer abgeschlossen?«

»Nein. Wieso?« Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Etwa Lust, einem alten Bekannten ‘Dia dhuit‘ zu sagen?«

Skeptisch blickte Duncan zur Tür.

Und Michael war sich sicher, dass er das ‘Hallo‘ sagen, großzügig mit einem ‘Ein anderes Mal‘ ablehnen würde.

»Warum nicht? Vielleicht kann ich ihn erreichen.«

Okay, damit hatte er nun nicht gerechnet. »Bist du sicher?«

Duncan zuckte mit den Schultern. »Viel mehr, als dass er mich rausschmeißt, kann doch nicht passieren – denke ich.«

Michael trat einen Schritt zur Seite, deutete zur Tür. »Na dann – viel Glück.«

Duncan klopfte.

Keine Reaktion.

Er klopfte noch einmal.

Nichts.

Der Daywalker drückte die Klinke runter und öffnete langsam die Tür. Nicht weit, nur etwas mehr als einen Spalt, und sah hinein. »Jonathan? Ich bin‘s, Duncan McClary. Erinnerst du dich?« Als keine Antwort kam, machte er die Tür weiter auf, ging einen Schritt in den Raum. Dann noch einen … und noch einen. »Ich bin seit kurzem wieder hier in Galway und dachte, ich komm mal vorbei und sage: Dia dhuit.«

Noch immer geschah nichts und Michael trat näher. Bis kurz vor die Türschwelle. Oh, wow … seit knapp einhundertsiebzig Jahren war außer Renvyle so gut wie keine Seele in diesem Zimmer gewesen – und trotzdem gab es nicht einmal ansatzweise irgendwo Staub zu sehen. Duncan befand sich jetzt etwa zwei Meter im Raum, blickte sich um, sah zu ihm und zuckte mit den Schultern. Der Daywalker ließ die Fingerknöchel knacken, lockerte sich mit leicht kreisender Bewegung die Nackenmuskulatur – fast wie ein Boxer vor dem bevorstehenden Kampf. »Nichts zu –«

»Hinter dir!«

Da stand er. Aus dem Nichts. Groß, mit schwarzen Haaren, die aristokratischen Gesichtszüge regelrecht wutentbrannt. Duncan wirbelte zu ihm herum, wich zurück. »Hallo Jonathan. Ich störe dich doch nicht gerade bei … irgendwas?«

Ein lauter, hohl klingender Schrei. Eine Bewegung, die für Michaels Augen kaum zu erfassen war und Duncan wurde im hohen Bogen durch die Luft katapultiert, fing sich im Flug und schaffte es irgendwie, auf seinen Füßen zu landen, bevor er mit voller Wucht an die Flurwand knallte. Dann krachte die Tür ins Schloss.

Heiliger Strohsack!

Duncan stand auf und sah zu Renvyles Tür. »Ein Schild mit 'Betreten verboten‘ wäre keine schlechte Idee.« Dann deutete er auf das gegenüberliegende Zimmer. »Und du solltest dir ganz genau überlegen, wem du das zum Schlafen überlässt.«

Michael lachte. »Willst du es?«

»Nein, lass mal«, erwiderte Duncan und zog die Brauen zusammen. »Wenn ich hier mal schlafen sollte …«, er drehte sich herum und sah den Flur entlang, »… dann würde ich gerne das von dem Handwerker nehmen.«

»Geht klar.« Er klopfte Duncan auf die Schulter. »Komm, gehen wir in die Küche und sehen mal, ob ich wirklich Bier im Kühlschrank habe. Und dann quatschen wir wegen des Jobs.«

»Ja, nach dem Rausschmiss wäre ein Bier nicht verkehrt.«

Michael ging vor Duncan die Treppe herunter – lautes Knarren der siebten Stufe, darum musste er sich unbedingt noch kümmern – und bog in die Küche ab.

Wie sehr er es mochte, wenn das Licht der Abendsonne durch die Fenster auf die alten Fliesen fiel …

Überrascht blieb Duncan im Türrahmen stehen. »Das glaub‘ ich jetzt nicht.«

Amüsiert beobachtete er den Daywalker, wie dieser zur Vitrine und den Regalen ging und dort die Aufschriften diverser Apothekerflaschen, Dosen und Schachteln studierte.

»Du betreibst … Hexerei?«

Zauberei. Den Genuss, zum Hexer oder Magier aufzusteigen, muss ich nicht unbedingt haben. Michael zuckte mit den Schultern. »Nur Natur- und Kerzenmagie.«

»Nur ist gut.« Duncans Blick wanderte durch den Raum und blieb dann am Fenster hängen. »Du hast das Haus magisch geschützt.« Er begutachtete das aufgehängte Windspiel aus drei dünnen Ebereschenröhrchen. »Also rechnest du mit Angriffen. Es steht wohl außer Frage, dass du dich mit deinen Huntern nicht auf Verkehrssünder spezialisieren wirst.«

»Genau. Nur das Rüpelzimmer oben habe ich ausgespart.«

»Jonathan selbst ist ja nun aber auch wirklich der beste Schutz, wie man eben sehen konnte … Und dabei war er früher die Ruhe in Person«, merkte Duncan an, während er am ersten Holzröhrchen des Windspieles roch. »Salz?«

»Yepp.«

»Weißdorn?«, fragte er, am zweiten riechend.

»Fast richtig. Mistel.«

»Ja, beides schwer voneinander zu unterscheiden. Sogar ihr magischer Geruch ist beinahe identisch.«

Wie groß der Unterschied zwischen dem normalen und dem magischen Duft wohl war? Michael hatte keine Ahnung, aber jedenfalls beneidete er die Paras für diese Fähigkeit, die den Menschen vorenthalten war.

Beim dritten wurde es offensichtlich etwas schwieriger – Duncan entfuhr ein nachdenkliches »Hmmm …« als er an dem Röhrchen roch. »Ich tippe auf … Hämatit.«

»Richtig.«

»Gute Kombination als Schutz gegen Schwarze Magie und ungebetene paranormale Besucher. Wo hast du dein Wissen über Naturmagie her?«

 

»Wow!« Sein Arm schoss zurück. Das zwiebelte ordentlich.

Rachel lachte herzhaft auf. »Ja, genau so erging es mir auch bei meinem ersten Versuch.«

 

»Ich habe mich während meiner Studienzeit mit der Zauberei befasst und dabei die Naturmagie zu schätzen gelernt.«

Fragend sah Duncan zu ihm herüber. »Wie das? Damals gab‘s doch noch gar keinen Studiengang für Parapsychologie.«

»Ich habe Psychologie und Keltologie studiert. Das mit der Naturmagie«, er klopfte auf eine der geschlossenen Bücherkisten, die hier noch auf das Auspacken warteten, »hat sich nebenher ergeben.« Dank Rachel.

Michael ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und nahm zwei Galway Hooker heraus. Mit seinem Feuerzeug schnippte er die Kronkorken ab, reichte Duncan eine Flasche und trank aus der seinen einen Schluck. Nachdenklich sah er den Daywalker an. Ihn im Team zu haben, statt ausnahmslos mit Menschen ihren paranormalen Aufträgen nachzugehen, wäre zweifellos ein Vorteil. »Du willst also tatsächlich bei mir als Bounty Hunter arbeiten?«

Die fest entschlossene Miene kehrte auf Duncans Gesicht zurück. »Ja.«

Michael schüttelte den Kopf. »Ich versteh‘s echt nicht. Schließlich hattest du bei Liam einen Job, um den dich so manch einer beneiden würde. Von der Bezahlung ganz zu schweigen.«

Duncan legte die Stirn in Falten und nahm einen Schluck vom Bier. »Ich brauche einfach eine … Luftveränderung.«

»Was ist passiert?«

»Nichts Besonderes. Ich will nur wieder raus auf die Straße und dort arbeiten. Wieder selbst Teil des Lebens sein und nicht Nacht für Nacht im Caer Hafgan stehen und den anderen dabei zusehen.«

Der Daywalker wirkte auf ihn mit einem Mal fast wie das Haus, bevor er beschlossen hatte, es zu kaufen – trotz der sehr langen Liste unglücklicher Vorfälle. Das Haus hatte eine Veränderung gebraucht, endlich Leben. Und vielleicht benötigte Duncan jetzt eben auch dringend eine Veränderung in seinem Leben. Ob sich dafür der Job als Hunter eignete? Nun, das würde sich zeigen. Michael nickte. »Kann ich verstehen.«

Er stellte die Bierflasche auf den Tresen und ging auf den Daywalker zu. »Mein Angebot: Eintausendfünfhundert Euro Gehalt, plus drei Prozent der jeweiligen Kaution. Einverstanden?« Er streckte Duncan die Hand entgegen.

»Ja, absolut, ist mehr als fair.«

Sein Händedruck war fest, die Haut angenehm warm, kein Vergleich zu der kalten Haut von Vampiren.

»Wann soll ich anfangen?«

»Morgen um neun Uhr.«

Ein Lächeln von Duncan. »In Ordnung.«

Michael nahm seine Flasche wieder vom Tresen, trank einen Schluck. »Noch Fragen?«

»Ja. Von wem erhalten wir unsere Aufträge? Arbeiten wir mit verschiedenen Kautionsagenten zusammen oder bürgst du selbst bei Gericht für die Kautionen?«

Auch, wenn er durchaus in der Lage dazu war … auf die ständige Bürokratie und die Nerverei mit den Richtern konnte er wirklich verzichten. »Wir arbeiten ausschließlich mit einem Agenten zusammen. Es ist Zac Balor.«

Duncans Brauen wanderten nach oben. »Balor mischt im Kautionsgeschäft mit?«

»Ja, seit kurzem.« Verständlich, dass Duncan verwundert war, wer rechnete schon damit, dass ausgerechnet der Fürst von Ildathach in dieser Branche tätig war.

»Gut. Dann wäre soweit ja alles geklärt.« Er stellte seine Flasche zurück auf den Tresen und sah zu der antiken Pendeluhr. Scheiße! Schon so spät. Da schenkte ihm Ruby schon eine Uhr – damit er endlich pünktlicher wurde – und dann …

Michael schnappte sich seine Lederjacke, die über dem Stuhl hing und zog sie an. »Ich muss los. Bin im Paddy‘s zum Gaelic Football, Meisterschaftsendspiel, mit einem Freund verabredet. Brendon Nolan. Er leitet bei der hiesigen Garda Síochána die Abteilung für Paranormale Fälle und ich arbeite eng mit ihm zusammen.«

»Ich muss auch los. Nochmal ins Caer Hafgan. Die Übergabe an den neuen Sicherheitschef steht noch an.« Duncan ging voraus und warf im Flur einen nachdenklichen Blick Richtung Treppe.

Ja, Renvyle. Eine Seele gefangen in so unendlichem Schmerz … Auch wenn es nicht viel Hoffnung gab, ihn von seinem Schicksal zu erlösen … vielleicht gelänge es ihnen gemeinsam, zumindest einen Weg zu finden, ihn für Kommunikation wieder zugänglicher zu machen.

»Bis morgen.« Michael öffnete ihm die Tür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mit einem Nicken verabschiedete sich Duncan und ging die An Fhaiche Mhor hinunter zu seinem schwarzen Audi A8, den er vor Rachels Haus geparkt hatte. Noch immer traute sich kaum jemand, dort seinen Wagen abzustellen. Selbst wenn es bedeutete, dass man den John F. Kennedy Memorial Park mehrfach umrunden musste, bis man einen Parkplatz bekam. Dass die Leute immer noch an diesen Schwachsinn glaubten, Rachel würde jedes Auto verfluchen, das dort parkte. Schließlich war das ein einmaliges Ereignis gewesen. Und ihr Ex hatte das mehr als verdient – Jordan war ein echter Dreckskerl. Wenn ihm Rachel damals doch nur gleich erzählt hätte, was vorgefallen war …

Michael beobachtete, wie Duncan in seinen Wagen stieg und losfuhr. Das war er nun also, sein erster Hunter. Als Halbvampir würde Duncan ihm mit seinen übersinnlichen Fähigkeiten sicher eine nicht zu unterschätzende Hilfe sein. Dennoch kannte er mindestens eine Person, die nicht erfreut sein würde, dass er Duncan eingestellt hatte. Mit einem Seufzer drehte er um und machte sich auf den Weg zum Paddy‘s.

Die Temperatur war deutlich gesunken und es fegte ein ungewöhnlich eisiger Wind, der ordentlich an den vierzehn Bannern der Familienstämme am Eyre Square zerrte. Michael klappte den Kragen seiner Jacke nach oben.

Wie immer herrschte in der Innenstadt reger Betrieb. Obwohl es sich bei dem Großteil der Passanten um Menschen handelte, und nur vereinzelt ein Para in der Menge auftauchte, hatte sich durch ihr Outing vor zehn Jahren vieles geändert. Die Nächte waren jetzt nicht nennenswert weniger belebt wie die Tage. Clubs und Pubs hatten bis zum Morgen geöffnet. Die Geschäftsleute hatten sich den neuen, zumeist nachtaktiven Mitbürgern angepasst und ließen ihre Läden in der Regel rund um die Uhr offen.

Am Paddy‘s war dieser Wandel jedoch beinahe spurlos vorbeigegangen und nur selten verirrte sich ein Para in den Pub. Warum, konnte er gar nicht sagen. Vielleicht lag es am fehlenden Angebot magischer Getränke, vielleicht war der Pub den Paras aber einfach auch zu … menschlich traditionell.

Aber genau deshalb bevorzugte Brendon das Paddy‘s. Auf die Idee, Läden wie das Caer Hafgan in seiner Freizeit aufzusuchen, würde sein bester Freund niemals kommen. Ein Fehler, Brendon wusste nicht, was er verpasste.

Als er das Paddy‘s erreichte, öffnete er mit Schwung die Eingangstür und trat ein. Die vertraute stickige Luft schlug ihm entgegen und die Rockklänge vom Galway Street Club, die gerade ihre Coverversion von I Love You Like An Alcoholic anstimmten, hießen ihn Willkommen. Eine richtig tolle Interpretation des Songs, der das Original locker in die Tasche steckte – aber die Gruppe war sowieso einsame Klasse!

Für einen Mittwochabend herrschte ungewöhnlich viel Betrieb. Was wohl daran lag, dass es die Aran Islands ins Endspiel geschafft hatten. Zum ersten Mal. An den Tischen gab es kaum einen freien Stuhl und an der Theke – hinter der Paddy und Jill zu Höchstformen aufliefen – drängten sich die Gäste, als gäbe es heute für jeden Guinness auf Kosten des Hauses. Ein Blick auf einen der Fernsehbildschirme, die hinter der Theke an der oberen Wandhälfte befestigt waren, ließ ihm ein leises »Mist« entfahren. Das Spiel hatte schon begonnen. Siebte Spielminute und die Four Roads lagen bereits mit einem Tor und drei Punkten vor den Aran Islands.

Scheiße. Da mussten die Jungs wirklich an Tempo zulegen, ansonsten hieß es bye-bye Meisterschaft. Er bahnte sich einen Weg zum Tresen, hob die Hand zum Gruß.

»Hi, Michael. Wie immer?«, fragte Paddy.

»Yepp.«

»Kommt sofort.« Paddy deutete mit dem Kopf rüber zu zwei Typen, die ihrem Unmut über die Four Roads-Führung lautstark Ausdruck verliehen. »Mache den beiden nur ihre Pints fertig, bevor sie noch einen Herzkasper bekommen.«

Michael lachte. »Alles klar.«

»Ich mach‘ das schon«, rief Jill ihrem Mann zu.

Kurz darauf gab sie ihm ein randvolles Pint Guinness über die Theke. »Hier, bitte.« Dazu reichte sie ihm zwei ihrer legendären Dulse-Scones. »Gib einen Brendon, dann ist er nicht mehr ganz so grummelig über deine Verspätung.«

»Danke, Jill. Du bist ein Schatz.«

»Das behauptet Paddy auch immer.« Liebevoll sah sie zu ihrem Mann herüber, der ihr einen Kuss auf die Wange gab.

»Weil‘s stimmt.« Die beiden passten wirklich toll zusammen. Michael zahlte mit einem Fünfer, trank einen Schluck von seinem Bier ab und machte sich auf den Weg in den hinteren, etwas abgegrenzten und ruhigeren Gastraum des Pubs.

An seinem Stammtisch erblickte er Brendon.

Die Aran Islands schienen gerade den Hintern hochzubekommen. O‘Casey rannte auf das Tor zu – der Lärmpegel im Paddy‘s stieg augenblicklich an – da eine Lücke. Ein überragender Wurf von O‘Casey. Pfosten! Feck! 

Laute Enttäuschung im gesamten Pub.

»Kein guter Start, was?« Er reichte Brendon ein Scone.

»Danke.« Sein Freund rubbelte sich mit den Fingern über die rotbraunen kurzen krausen Haare. »Vollpfosten! Im wahrsten Sinne des Wortes. So wird das nie was mit der Meisterschaft.«

»Wird schon noch.« Michael stellte sein Pint auf dem Tisch ab und setzte sich.

»Du bist spät dran. Seit wann verpasst du den Anpfiff, wenn die Aran Islands spielen?«

»Ich hatte noch ein Vorstellungsgespräch und …« Mist, also doch jetzt schon. »… wie‘s aussieht, ab morgen meinen ersten Mitarbeiter.«

Gespannt sah Brendon ihn an. »Echt? Na, das ging aber fix. Wenn man bedenkt, dass die Anzeige heute erst in der Galway Independent erschienen ist.«

»Er kam nicht aufgrund der Anzeige.«

»Sondern?«

Michael atmete durch. »Es ist jemand von Parkers Leuten.«

Brendon kniff die Augen zusammen. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Wer?«

Dass sein Freund Liam nicht ausstehen konnte … er hatte nie einen Hehl daraus gemacht – und dabei war er ihm noch nicht einmal begegnet. Okay, hätten sie das, es wäre der Abneigung sicherlich förderlich gewesen. Der Sidhe war eben … speziell. »Duncan McClary.«

»Dieser Vampir?«

»Daywalker.«

»Von mir aus Daywalker. Dennoch ein Blutsauger.« Fassungslos schüttelte Brendon den Kopf. »Du weißt schon, dass du damit ein verdammt hohes Risiko eingehst, oder?«

»Wieso? Weil er ein Daywalker ist? Brendon, wir reden hier vom ehemaligen Sicherheitschef des Caer Hafgans. Der Job setzt doch voraus, dass man sich unter Kontrolle hat.«

Jubel brach im Pub aus und Michael warf einen kurzen Blick zum Bildschirm. Die Aran Islands hatten ein Tor erzielt.

»So, wie Marvin Blake sich unter Kontrolle hatte?«, entgegnete Brendon mit gepresster Stimme.

Michael senkte schüttelnd den Kopf und starrte auf sein Pint. »Ach, Mann … Scheiße …« Eine echt katastrophale Geschichte damals, die Brendon fast das Leben gekostet hätte …

Der Daywalker hatte nach einem vermeintlichen Vampirüberfall auf eine junge Frau als Zeuge ausgesagt, war im Anschluss sogar bereit gewesen, für die Garda Síochána als Spitzel zu fungieren. Brendon hatte versucht, Blake gegenüber misstrauisch zu bleiben. Aber der Daywalker gehörte nicht nur einer der vierzehn Galwayer Stämme an, sondern verstand es vor allem auch, das weiche Herz seines besten Freundes zu berühren.

Letztendlich wurde Brendon Blakes Kontaktmann. Wochenlang arbeiteten die beiden eng zusammen. Dass der Daywalker dem Blutrausch verfallen war und seinen unbändigen Durst an über einem Dutzend Frauen auf brutalste Art und Weise gestillt hatte, konnte damals niemand ahnen – auch Brendon nicht.

Der Schock hätte seinem besten Freund beinahe das Leben gekostet. Als der Daywalker das Feuer auf ihn eröffnete, reagierte Brendon zu spät und der Schuss verfehlte seine Baucharterie nur knapp. Zum Glück war Scott mit ein paar Cops rechtzeitig am Tatort gewesen. Sie hatten Brendon retten, und Marvin Blake verhaften können.

Nun saß das Schwein seit neun Monaten in seiner Zelle und wartete auf die Überführung nach Dublin, wo die Vollstreckung des Todesurteils durch Enthauptung stattfinden sollte. Ja, eine barbarische, aber leider auch notwendige Strafe, die wegen der Paras wieder ins Gesetz aufgenommen werden musste.

Wirklich schrecklich, was Brendon alles hatte mitmachen müssen … aber es waren die Dämonen seines Freundes, nicht seine. Und Brendons Misstrauen konnte nicht zu seinem werden und sein Leben bestimmen. So sehr er sich auch wünschte, dass diese Sorge, diese Angst aus Brendons Blick verschwinden möge. »Duncan McClary ist kein Marvin Blake«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Nicht jeder Daywalker oder Vampir verfällt dem Blutrausch und schlachtet deshalb einen Menschen nach dem anderen ab. Und nicht jeder Para, der seine Hilfe anbietet, will damit seine abscheulichen Taten verschleiern, Brendon.«

Ein sichtbar enttäuschter Blick seines Freundes. »Dann hoffe ich für dich, dass du diese Entscheidung eines Tages nicht bitter bereuen wirst.«

»Werde ich nicht! Nicht bei Duncan.«

 

 

 

Galway Hunters 2: Feuertaufe

 

Kapitel 1

 

Die Nervosität zehrte an Cat Gallaghers Nerven und ließ sie zittern. Oder kam ihr das nur so vor? Sie atmete ein-, zweimal tiefer und schneller durch und versuchte, sich zu beruhigen. Was ihr aber nicht wirklich gelang.

Kein Wunder, wenn auf der anderen Seite der verspiegelten Scheibe der Mörder ihrer Eltern so lässig am Tisch des Verhörraumes saß, als befände er sich in geselliger Runde mit Freunden. Würde er wieder straflos davonkommen? Für alles, was er verbrochen hatte, wieder eine Erklärung haben?

»Wenn jemand den Kerl zum Reden bringt, dann Alex«, sagte in diesem Moment ein Stück neben ihr Brendon leise zu Michael, als hätte er ihre Gedanken gelesen.  

Das klang tröstlich, aber sie glaubte nicht wirklich daran. Nicht, wenn sie hörte, wie selbstsicher Gabriel O’Mordha das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen mit den Worten »Ich benötige keinen« ablehnte.

Sie begann zu frösteln und fühlte sich mit einem Mal schrecklich allein. Und das, obwohl Michael und Brendon direkt neben ihr standen und beide keinen Zweifel daran ließen, dass sie ihr glaubten, mehr noch, dass beide ebenfalls mit aller Macht versuchten, dass dieser elendige Vampir, der sie stalkte, diesmal die Quittung für seine Verbrechen bekam.

Alex Donovan, der Gabriel gegenübersaß, öffnete die Akte. »Gehen wir zur besseren Übersicht doch der Reihe nach vor und beginnen mit dem von Ihnen heute begangenen Hausfriedensbruch«, hörte sie die gedämpfte Stimme des Cops durch die Sprechanlage.

Ihr Frösteln verstärkte sich bei dem Gedanken daran, wie Brendon und sie ganz unverhofft in ihrem Apartment diesem Blutsauger gegenüberstanden. Noch immer war es ihr ein Rätsel, wie er ohne ihre Einladung dort hineingelangen konnte.

Die Tür des Beobachtungsraumes öffnete sich.

Duncan!

Mit einem Lächeln sah sie ihm entgegen.

Er begrüßte kurz Brendon und Michael, kam dann direkt zu ihr. Sanft legte Duncan seine Hand auf ihren Rücken. »Bist du in Ordnung«, fragte er leise.

»Ja«, erwiderte sie ebenso leise. Was auch tatsächlich der Wahrheit entsprach. Jetzt schon. Das Frösteln war mit einem Mal wie weggeblasen.

»Ein bedauerlicher Irrtum meinerseits«, drang Gabriels Stimme durch die Sprechanlage. »Ich habe die Immobilie erworben und fälschlicherweise die Information erhalten, das Apartment sei zurzeit nicht mehr vermietet.«

Lüge! Nichts als eine dreckige Lüge! Alex sagte etwas, doch sie bekam nicht ein Wort davon mit. In ihren Ohren rauschte es.

Jetzt blickte Gabriel plötzlich zur verspiegelten Scheibe, genau zu der Stelle, wo sie stand. Und das mit so einem wissenden und stechenden Blick, als könne er sie dort tatsächlich sehen. Cat kämpfte gegen den Wunsch an, den Kopf wegzudrehen. Kam ja gar nicht in Frage, dass sie diesem Vampir so viel Macht –

In dem Moment stellte sich Duncan vor sie. Bot ihr Schutz vor Gabriels Blick, den sie nicht in der Lage war, abzustreifen und von dem sie sich beschmutzt fühlte.

Das schien zu wirken, Gabriels Aufmerksamkeit wanderte zurück zu Alex. »Wann soll ich wem nachgestellt haben?«, erkundigte er sich bei dem Cop mit einem Lächeln.

Altbekannte Wut kochte in ihr hoch.

Duncan ging es offenbar ähnlich, denn er ballte die Faust und legte sie an die Scheibe.

»Cathrine Gallagher, bei mehreren Gelegenheiten. Im Caer Hafgan, an ihrem Arbeitsplatz, nur um mal zwei Beispiele zu nennen«, hielt Alex diesem elendigen Lügner vor.

»Wofür Sie natürlich entsprechende Beweise haben.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Alex ruhig. »Wir haben Aussagen von absolut glaubwürdigen Zeugen, die den Strafbestand der Nachstellung durch einen Vampir bestätigen.« Alex neigte leicht den Kopf, sah Gabriel intensiv an. »Und der Hausfriedensbruch in Ms Gallaghers Apartment untermauert den Vorwurf zusätzlich.«

»Zufälle. Weiter nichts. Im Club war ich lediglich erstaunt, Ms Gallagher nach so vielen Jahren unverhofft wiederzubegegnen. Was hat das denn mit Nachstellung zu tun?«

Sofort war der Moment im Caer Hafgan wieder allgegenwärtig. Wieder sah sie hoch zur Balustrade des VIP-Bereichs, wie er dastand und das Scheinwerferlicht sein Gesicht mit dem eiskalten Lächeln für einen Moment streifte. Und wieder erstarrte ihr Körper bei Gabriels Anblick, den sie zwei lange Jahre gejagt hatte. War das wirklich erst wenige Tage her?

»– ist sie die Tochter meiner damaligen Lebensgefährtin und ich habe nicht erwartet, ihr hier in Galway zu begegnen. Was hat das denn mit Nachstellen zu tun?«, holte Gabriels Stimme sie ins Hier und Jetzt zurück.

Völlig perplex sah Michael zu ihr herüber. Die Frage nach der ‘Lebensgefährtin‘ stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

»Deine Mutter und O’Mordha waren ganz offiziell ein Paar«, stellte Duncan leise und voller Mitgefühl fest.

Auch wenn es sich um keine Frage handelte … nickte sie zur Bestätigung und atmete tief durch. Mehr brachte sie einfach nicht zustande. Aber das brauchte sie auch nicht. Nicht bei Duncan. Wenn einer sie verstand, dann er.

Cat konzentrierte sich wieder auf das Verhör.

Alex blätterte erneut in der Akte. » Und weil Sie ein absolut unbescholtener Bürger sind, schießen Sie auf eine Vollstreckungsperson, die Sie überprüfen will? Womit wir bei den nächsten beiden Anklagepunkte wären: Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen und versuchter Totschlag. Das macht summa summarum weitere fünfzehn bis zwanzig Jahre.«

Gott, sie hoffte inständig, dass dieser Mistkerl nicht nur für ein paar Jahrzehnte, sondern am besten für die nächsten Jahrhunderte weggesperrt wurde, oder noch besser, niemals wieder auf freien Fuß kam.

»Notwehr«, konterte Gabriel.

»Natürlich nicht«, hielt Michael dagegen,

Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, dass hier Aussage gegen Aussage stand.

»Was ich bezeugen kann«, warf Duncan ein. »Michaels Glock hatte keinen Schalldämpfer und die ersten Schüsse kamen eindeutig aus einer Waffe, die einen hatte.«

Sie hätte Duncan dafür küssen können. Wie gut, dass das Gehör eines Daywalkers, dem eines Vampirs in nichts nachstand. Sie hatte keine gedämpften Schüsse gehört. Und das, obwohl sie an diesem Abend ja auch im John F. Kennedy Park gewesen war und direkt an Duncans Seite gestanden hatte. Weil sie Gabriel ein Ende bereiten wollte. Mit der Smartgun, die Duncan mitgebracht hatte. Wieder hatte sie vor Augen, wie sie die Waffe hob, auf Gabriel zielte, den Abzug betätigen wollte – Und nichts geschah. Weil die Smartgun zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf sie authentifiziert gewesen war.

»Mr O'Mordha«, riss Alex sie aus ihren Gedanken. »Sie sprachen eben von Zufällen. Ich muss gestehen, das fällt mir schwer zu glauben. Fassen wir doch mal zusammen: Sie tauchen immer wieder an Orten auf, an denen sich Ms Gallagher – die Tochter ihrer damaligen Lebensgefährtin – befindet. Sie kaufen die Immobilie in der Ms Gallagher ein Apartment gemietet hat. Sie begehen in diesem Apartment Hausfriedensbruch. Sie leisten Widerstand gegen Ms Gallaghers Boss, als dieser Sie überprüfen will und eröffnen das Feuer auf ihn. Glauben Sie mir, Mr O'Mordha, das wird der Jury vollkommen reichen, um nicht an Zufall zu glauben. Und wenn wir jetzt noch den Umstand berücksichtigen, dass die Tode von Ms Gallaghers Eltern ein weiteres Mal untersucht werden, weil wir neue Erkenntnisse haben, die gegen die damals ermittelten Todesursachen und für eine Verwicklung Ihrer Person sprechen, dann werden Sie wohl niemandem mehr weismachen können, es handle sich um Zufälle

Ein verächtliches Schnauben von Gabriel. »Das haben Sie sich alles sehr schön zurechtgelegt. Frank Gallagher kam meines Wissens bei einem Autounfall ums Leben, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit und bitte – korrigieren Sie mich, sollte ich mich damit im Irrtum befinden – volltrunken die Coast Road entlangraste, dabei die Kontrolle über den Wagen verlor und sich mehrfach überschlug. Was hat das mit mir zu tun? Zumal ich an jenem Abend einen Geschäftstermin in Dingle hatte.«

Mit aller Macht verdrängte sie die Bilder, die drohten, von Dads Beerdigung in ihr hochzukommen. Und altbekannte Hilflosigkeit und Verzweiflung kamen hinzu. Wie nur, sollten sie jemals beweisen, dass Gabriel seine Finger im Spiel hatte, dass er es gewesen war, der Dad an diesem Abend dazu veranlasst hatte, so überstürzt das Haus zu verlassen?

»Keine Sorge, Cat.« Duncan stand jetzt ganz nah an ihrer Seite. »Egal wie, er wird dafür bezahlen. Das verspreche ich dir.«

Sie wollte ihm so gerne glauben, sicher sein, dass es wirklich so kommen würde. Ihre Augen wurden feucht und sie senkte die Lider. Nein, jetzt nicht heulen. Auf gar keinen Fall.

»Was meine Lebensgefährtin betrifft«, hörte sie Gabriel sagen, »so hat ihr Tod niemanden mehr getroffen als mich selbst. Nach über elf Jahren vermisse ich sie immer noch jeden Tag auf das schmerzlichste.«

Alex schüttelte den Kopf. »Ich muss Sie korrigieren, Mr O'Mordha. Da befinden Sie sich in einem bedauerlichen Irrtum. Mrs Elizabeth Gallagher verstarb vor zwei Jahren. Nicht vor elf. Damals verfiel sie ins Koma, von dem wir heute wissen, dass es sich um ein Wandlungskoma handelte, aber es verwundert mich, dass Ihnen dieser Umstand nicht bekannt ist – wo Sie doch eben von so großer Liebe sprachen.«

Verständliche Überraschung legte sich in Gabriels Gesicht. »Das … das wusste ich nicht.«

»Nein, natürlich nicht.« Michael klang richtig sauer.

»Er wusste es wirklich nicht.« Mehr als die Worte zu flüstern, brachte sie nicht zustande.

»Was?« Verständnislos sah Michael sie an.

»Mein Onkel und meine Tante bestanden damals darauf, dass Mums Koma geheim gehalten wird. Zu viel Rummel in der Öffentlichkeit. Der Familiennamen und die Firma sollten nach Dads Tod in keinen weiteren Skandal verwickelt werden – schlecht fürs Geschäft.«

»Wirklich herzergreifend, was Sie da von sich geben, Mr O'Mordha«, kam es trocken und ungerührt von Alex. »Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass Mrs Elizabeth Gallagher ganz allein durch Ihre Schuld ins Wandlungskoma gefallen ist. Womit wir beim nächsten Anklagepunkt angelangt wären: Nicht autorisierte Wandlung auf Verlangen mit Todesfolge.«

Die Erinnerung von damals war schlagartig wieder da.

 

Mum lag in seinen Armen und hielt ihren Kopf zur Seite geneigt. Seine Lippen berührten ihren Hals. Blut tropfte.

Nein! Sie schrie.

Beide blickten zu ihr.

Sie sah seine langen Fangzähne. Ein Vampir! Mums Blut tropfte von seinen Lippen. Lippen auf denen jetzt ein kaltes Lächeln erschien. Sie wich entsetzt zurück, drehte sich um und rannte …

 

Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Cat spürte Michaels Blick und hob die Lider. In seinen moosgrünen Augen las sie sein Versprechen, dass er sie nicht alleine lassen würde.

Duncan ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. »Ich denke, wir haben genug gehört, vor allem Cat.« Er sah sie an und in seinen dunklen Augen erschien plötzlich wieder dieser ganz besondere helle Schimmer. »Außerdem müssen wir sprechen. Über Redlog.«

Brendon deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. »Dann lasst uns am besten in mein Büro gehen.«

Michael, Duncan und sie folgten ihm.

Und es fühlte sich verdammt gut an, dass Duncan den gesamten Weg bis hin zu Brendons Büro, ihre Hand in der seinen hielt. Erst als er die Zimmertür hinter sich schloss, ließ er ihre Hand los.

Michael und Brendon drehten sich zu ihnen um, sahen Duncan erwartungsvoll an.

»Ich habe mit Liam Parker gesprochen«, begann er, »und ihm erzählt, dass Arior Redlog weitaus mehr Verbrechen vorzuwerfen sind, als dass er im Caer Hafgan Cats Leben bedroht hat. Dass ich mir durch Redlogs Geruch absolut sicher bin, dass er sowohl für den Mord an Amy McKenzie verantwortlich ist, wie auch für die Entführung und Folterung von Makayla Skeritt und die Tötung weiterer Frauen.«

»Und? Was sagt er?« Brendon war die Anspannung am Gesicht abzulesen.

Kein Wunder, als Chief Inspector für paranormale Fälle trug er jede Menge Verantwortung auf seinen Schultern.

»Er ist zu einer Zusammenarbeit zwischen der Galwayer Polizeibehörde und der Andomhainer Gerichtsbarkeit ohne Einschränkungen bereit.«

»Hui«, kam es überrascht von Brendon. »Damit hätte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet.«

»Liam nimmt seine Pflicht als Andomhainer Fürst sehr ernst, schon immer«, entgegnete Duncan. »Dementsprechend lässt er seinen Worten auch immer gleich Taten folgen. Wir sollen uns, wenn irgendwie möglich, noch heute Abend mit dem Chosantóirí an Ordú Nua treffen.«

»Was bedeutet das?« Auch wenn es um ihr Gälisch nicht gerade zum Besten stand und es sehr ähnlich klang, war Cat sich trotzdem ziemlich sicher, dass es sich um eine andere Sprache handelte.

»Das ist der Titel eines sehr ranghohen … sagen wir, andomhainer Cops, der im Bereich der Blutgerichtbarkeit ermittelt und bedeutet: Verteidiger der Neuen Ordnung.« Duncan sah zu Brendon. »Jetzt müssen wir Liam nur noch einen öffentlichen, unauffälligen Ort als Treffpunkt nennen. Am besten einen, wo es möglichst wenige paranormale Lauscher gibt. Ich dachte an den Pub, wo ihr immer hingeht, wie heißt er noch gleich? Paddy’s?«

Ein kurzer Blickwechsel zwischen Michael und Brendon, die beiden schienen sich einig zu sein und nickten.

»Okay.« Duncan ergriff wieder ihre Hand. »Dann gebe ich Liam Bescheid und mache mich mit Cat schon mal auf den Weg. Sie muss nicht länger als unbedingt notwendig unter ein und demselben Dach mit Gabriel O’Mordha sein.«

»In Ordnung«, erwiderte Brendon, »Michael und ich warten noch auf Alex, dann kommen wir direkt nach.«

 

***

 

Unschlüssig, ob er sich nun auf einen der Chromstühle setzen, oder doch lieber stehen bleiben sollte, ging Michael O’Hara in dem breiten Flur der Polizeiwache einige Schritte auf und ab. Diese ewige Warterei fing langsam echt an zu nerven. Hatte er die letzten Tage eigentlich irgendetwas anderes getan? Reiß dich gefälligst mal zusammen, mahnte er sich selbst in Gedanken.

Um seiner Ungeduld ein Schnippchen zu schlagen, setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl, beugte sich etwas vor und stützte sich mit den Unterarmen auf seinen Oberschenkeln ab. Wie gerne würde er jetzt eine rauchen. Zu blöd, dass das auf dem Revier verboten war. Er schaute auf seine Armbanduhr. 22:07. Lange konnte es doch nicht mehr dauern, bis Brendon und Alex soweit waren, dass sie zum Paddy’s fahren konnten um dort Parkers Cop zu treffen.

Noch immer fragte er sich, wie Duncan es fertiggebracht hatte, Liam Parker zu einer Zusammenarbeit mit der hiesigen Polizei zu bewegen. Klar, der Daywalker war eine Ewigkeit Parkers bester Mann gewesen, bevor er dann vor wenigen Tagen bei ihm als Bounty Hunter angefangen hatte. Aber der Sidhefürst war eigen und akzeptierte in der Regel nur seine eigenen Entscheidungen.

Schritte.

Er hob den Kopf. Waren das endlich Brendon und Alex? Nein, es handelte sich nur um eine Person, die den Flur entlangkam. Kurze, zügige Schritte, Absatzklappern. Also eine Frau. Jetzt sah er sie. Es war … Lynn Henderson. Die Ehefrau von Brendons Chef, Superintendent James Henderson.

Als Lynn ihn erblickte, blieb sie stehen. »Hallo Michael, wie geht es dir?«

»Danke, bestens«, antwortete er, auch wenn das stark übertrieben war. Und höchstwahrscheinlich konnte sie es auch in seiner Aura lesen, dass dies nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Aber natürlich würde sie gerade hier und jetzt kein Wort darüber verlieren.

Ein wissendes, kleines Lächeln von ihr bestätigte seine Vermutung. »Du wirst sehen, Michael, letztendlich wird sich alles zum Guten wenden.« Sie nickte ihm einen Gruß zu und ging weiter.

Michael sah ihr noch einen kleinen Moment nach. Ja, so etwas ähnliches hatte sie auch gesagt, als sie ihm vor etwa siebzehn Jahren bei ihrem Kennenlernen das Leben gerettet hatte …

 

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus dem Schlaf und mischte sich unbarmherzig mit einem pochenden Schmerz in seinem Schädel, der sich in Sekundenschnelle ausbreitete. War gestern auf der Studentenfeier wohl doch ein Guinness zu viel, dachte er und angelte nach seinem Handy. Ein Blick aufs Display. Mit einem Wisch nahm er den Anruf an. »Ruby, was gibt’s?«

»Michael, du musst auf der Stelle kommen!« Ruby klang aufgeregt, fast schon hysterisch.

»Jetzt?« Er schaute auf seine Armbanduhr. 04:17. Das erklärte die dröhnenden Kopfschmerzen, er hatte gerade mal zwei Stunden geschlafen.

»Ja, Michael, jetzt!«

»Willst du mir nicht erst einmal erzählen, was überhaupt los ist?«

»Ein wildgewordener Púca ist gerade dabei, meinen gesamten Garten niederzutrampeln.«

Öhm … »Bist du dir sicher, dass es ein Púca ist?« Ruby war zwar wie alle Iren sehr abergläubisch, wusste im Gegensatz zu ihnen aber, dass all die unterschiedlichen Wesen der Anderswelt tatsächlich existierten.

»Michael!« Rubys Stimme hatte mittlerweile eine ungeahnt schrille Tonlage erreicht, die ihm deutlich zu verstehen gab, dass er seinen Hintern schleunigst zu ihr bewegen sollte.

»Okay, okay, ich bin ja schon unterwegs«, lenkte er ein und beendete das Telefonat.

Schlaftrunken stand er vom Bett auf und ging ins Bad. Dort drehte er am Waschbecken den Kaltwasserhahn auf und hielt seinen Kopf kurz unter das eiskalte Wasser, um seine Lebensgeister zumindest ein wenig zu wecken. Okay, das musste reichen. Kurz ruppelte er sich mit einem Handtuch die Haare ab. Zurück im Schlafzimmer zog er sich Shirt, Jeans, Socken und Schuhe an und überlegte, was er über Púcas wusste, da er bisher noch keinem dieser Wesen begegnet war. Sie waren Gestaltwandler – keine Frage – gehörten aber trotzdem zur Familie der Kobolde. Über ihr eigentliches Aussehen ließ sich nur spekulieren, da sie sich den Menschen eigentlich immer in Tiergestalt zeigten. Dabei schienen sie die Form eines Pferdes besonders zu bevorzugen. Er schnappte sich die Wagenschlüssel und zog sich im Hinausgehen die Jeansjacke über.

Draußen empfing ihn ein eisiger Wind und der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Mit schnellen Schritten ging er zu seinem alten Land Rover Defender und stieg ein.

Normalerweise brauchte er vom Merlin Park bis nach Claddagh etwa fünfundzwanzig Minuten, aber bei dem Wetter, würde es sicher länger dauern bis er bei Ruby ankam.

Feck! Er trat aufs Gaspedal, obwohl die schlechte Sicht dies kaum zuließ. Aber wenn es sich tatsächlich um einen Púca handelte, dann konnte der Schaden, den dieses Wesen in der Zwischenzeit in Rubys Garten anrichtete, erheblich sein.

Zum Glück waren die Straßen leer, keine Seele zu sehen.

Endlich erreichte er Claddagh und fuhr die Father Griffin Road entlang und bog dann in die Salthill Road Lower ein, Nicht einmal begegnet ihm ein anderes Fahrzeug. Und kein Fußgänger war zu sehen. Die Welt schien sich wie in der tragischen Legende um Diarmuid und Gráinne in einem tiefen Schlaf zu befinden. Das änderte sich auch nicht, als er in die Devon Park einbog. Immer noch war keine Seele zu sehen.

Kaum hatte er den Land Rover vor Rubys Cottage zum Halten gebracht, kam sie ihm auch schon wild gestikulierend entgegengerannt.  »Michael, endlich!«

Er hob entschuldigend die Hände. »Schneller ging's nicht. Wo ist denn nun dein ungebetener Gast?«

Ruby zerrte ihn ungeduldig am Arm hinter sich her. Den Regen, der ihnen entgegenschlug, schien sie kaum wahrzunehmen. Sie führte ihn zu ihrem Gemüsegarten hinter dem Haus, der an die Obstbäume grenzte. »Da! Siehst du ihn?!«

Angestrengt schaute er in besagte Richtung. Durch die Dunkelheit und den Regen war jedoch nicht wirklich viel zu erkennen. Erst als er sich einige Schritte näherte, zeichnete sich dort schemenhaft die Umrisse eines Tieres ab, das voller Wut auf etwas einzutrampeln schien.

»Oh nein, mein schöner Kohl«, jammerte Ruby.

»Bleib lieber zurück«, mahnte er. Solange er nicht genau wusste, mit was für einem Wesen sie es hier zu tun hatten, war es ihm lieber, Ruby im sicheren Abstand zu wissen.

»Kommt gar nicht in Frage«, polterte sie.

Er seufzte. Typisch Ruby.

Das wie im Wahn tobende Tier schien sie nicht zu bemerken, was ihm nur recht sein konnte, gab es ihm doch die Möglichkeit, näher an das Wesen heranzukommen.

Je näher er kam, desto deutlicher zeichnete sich die Gestalt eines Pferdes vor ihm ab. Und bei Gott, es handelte sich um ein wahres Prachtexemplar von Pferd. Das schwarzglänzende Fell hob sich kaum von der Finsternis der Nacht ab und die Mähne wehte wild und unbändig im Sturm. Schnaubend warf er seinen Kopf in die Höhe, die Augen leuchteten tiefrot.

Kein Zweifel, vor ihm tobte ein Wesen, das nicht von dieser Welt war. Aber handelte es sich wirklich um einen Púca? Vielleicht war es ja auch ein anderes Geschöpf, das die Gestaltverwandlung beherrschte oder eine übernatürliche Fähigkeit besaß, wie beispielsweise Illusionen zu erschaffen. So oder so, er war sich sicher, in wenigen Augenblicken die Antwort zu erhalten. Er nahm den Daumen und den Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen lauten Pfiff aus.

Es wirkte.

Der Rappe verharrte in seiner Zerstörungswut und wirbelte zu ihm herum. Seine unheimlichen Augen funkelten ihn an, während er sich Schritt für Schritt näherte.

»Michael«, wisperte Ruby hinter ihm.

»Jetzt nicht.« Seine Konzentration war auf das Wesen vor ihm gerichtet. Es stand nun so nah, dass er ohne Probleme die weit geblähten Nüstern hätte berühren können – Was nur ein ausgewachsener Narr oder jemand, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte, wagen würde. Ein Geschöpf mit übernatürlichen Fähigkeiten, egal, welcher Rasse es angehörte, berührte man besser nicht ohne dessen Erlaubnis.

Der Rappe stampfte ungeduldig mit dem Vorderhuf und blies ihm seinen dampfenden Atem ins Gesicht. »Was willst du?«

Okay, jetzt war er sich ziemlich sicher, einen Púca vor sich zu haben. Ein einfacher Gestaltwandler wäre in seiner Tiergestalt nämlich nicht in der Lage gewesen, mit menschlicher Stimme zu sprechen. »Es interessiert mich, warum du den Garten einer netten, alten Dame in Grund und Boden stampfst.«

Hinter ihm schnaubte Ruby verächtlich auf. Anscheinend war sie über seine Bemerkung mit dem ‘alt‘ nicht sonderlich erbaut.

»Sie hat mich beleidigt.«

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Wie das?«

»Sie hat meine Einladung ausgeschlagen.«

»Deine Einladung?« Ihm schwante Böses.

»Ja«, entgegnete der Rappe. »Ich wollte ihr die Ehre erweisen, auf meinem Rücken einen Ausritt zu unternehmen.«

»Und sie hat abgelehnt.«

»Richtig.«

Feck, jetzt saßen sie wirklich in der Klemme. Niemand gab einem Púca einen Korb, wenn dieser ihn zu einem Ritt einlud. Er wandte sich zu Ruby um, die aber nur stumm mit den Schultern zuckte. Also schön, dann musste ihm jetzt ganz schnell etwas einfallen, mit dem er den Púca milde stimmen konnte, da der Kobold ansonsten genau da weitermachen würde, wo sie ihn eben unterbrochen hatten. Und dann hätte Ruby am Morgen mal einen Gemüsegarten gehabt. »Sieh mal«, begann er. Das war doch nicht böse gemeint von ihr. Aber sie ist alt und gebrechlich. Sie schafft es gesundheitlich gar nicht mehr, einen Ritt auf dir zu unternehmen. Selbst wenn sie es wollte, sie würde es ja nicht einmal mehr fertigbringen, auf deinen Rücken zu klettern.

»Nachvollziehbar«, entgegnete der Púca. »Aber es macht keinen Unterschied, da eine Einladung nun einfach nicht ausgeschlagen werden darf.«

»Und wenn ein anderer an ihrer Stelle der Einladung folgen würde? Wäre das okay?«

Das Geschöpf kam tatsächlich noch einen Schritt näher auf ihn zu. »Willst du es etwa wagen?«

Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, schoss es ihm durch den Schädel. »Es wird mir eine Freude sein.«

Der Púca stieß ein lautes Wiehern aus und warf den Kopf in die Höhe. »Nicht halb so viel wie mir. Na los, steig auf.«

»Aber nach unserem Ausflug lässt du den Garten der alten Dame dann in Ruhe, ja?«, stellte er sicher, ehe er an die Seite des Púcas trat und in die lange, dichte Mähne griff.

Der Rappe wandte ihm den Kopf zu. »Selbstverständlich.«

Er stieß einen Seufzer aus und schwang sich auf den Rücken des Púcas, was ihn doch einige Mühe kostete, obwohl er kein ungeübter Reiter war. Aber schließlich wies das Tier ein Widerristhöhe von mindestens einen Meter achtzig auf.

Kaum saß er auf dem Rücken des Púcas, stieg der Rappe fast kerzengerade in die Höhe und ließ erneut ein lautes Wiehern vernehmen. Man merkte dem Wesen seine Freude förmlich an. Er selbst hingegen hatte alle Hände voll zu tun, um nicht abgeworfen zu werden, bevor es überhaupt losging. Die Vorderhufe hatten den Boden noch nicht richtig berührt, da preschte der Púca auch schon los.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf dem Rücken klein zu machen und sein Gesicht tief in die Mähne zu vergraben, um auf diese Weise wenigsten etwas vor dem Sturm und dem Regen geschützt zu sein. Das Tempo, das dieser Kobold an den Tag – oder besser gesagt die Nacht – legte, war echt atemberaubend. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Sie preschten die Devon Park entlang, die kurz darauf in die Dr Mannix Road überging. Das Donnern der Hufe auf dem Asphalt wurde vom Sturm fast vollständig verschluckt. Sollte trotzdem irgendjemand ihren Höllenritt durch die leeren Straßen bemerken, er würde wahrscheinlich an ein Hirngespinst glauben. Endlich gelangten sie ans Ende der Dr Mannix Road und dem Púca würde keine andere Wahl bleiben, als sein mörderisches Tempo zu drosseln.

Doch weit gefehlt. Der Rappe legte jetzt sogar noch zu und warf sich regelrecht in die Linkskurve. Wild entschlossen, nicht seitlich vom Rücken zu segeln, biss er die Zähne zusammen, krallte die Hände fest in die wehende Mähne und presste die Schenkel so fest er konnte an den Pferdekörper.

Der Kobold steigerte weiter die Geschwindigkeit und sie hielten nun geradewegs auf die Salthill Promenade zu. Und der gelbe Stein des Black Rocks hob sich hell von der Dunkelheit der Nacht und der stürmischen Flut ab. Der Púca wollte doch nicht allen –

Im letzten Moment warf das Tier sich herum. Und wieder wäre er fast vom Pferderücken geflogen. Feck, wie lange wollte der Púca diesen irrsinnigen Ritt denn noch fortsetzen? Lange, das stand fest, würde es ihm nicht mehr gelingen, sich oben zu halten. Seine Schenkel schmerzten bereits unerträglich und die Arme fühlten sich schwer wie Blei an.

Doch der Púca jagte immer weiter, jetzt den Strand entlang. Links von ihnen befand sich der stürmische Atlantik, rechts von ihnen der weitläufige Golfplatz. Einziger Trost, wenn er jetzt abgeworfen werden würde, war die Landung im Sand, anstatt von hartem Asphalt. Soweit kam es allerdings nicht, denn jetzt erreichten sie den Caravan-Campingplatz. Ab hier wurde es verdammt felsig. Und der Púca dachte noch immer nicht daran, sein Tempo zu drosseln. Auch nicht, als sie die Klippe des Wandergebietes Stoney Rocky Island hochjagten.

Feck! Wollte, der Púca, dass sie sich alle beide die Hälse brachen? Vor ihnen befand sich nur noch der Abgrund und der Atlantik! Er krallte die Finger fest in die Mähne des Rappens und lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht nach hinten. »Haaaalt!«

Der Púca nahm ihn beim Wort, legte eine Vollbremsung an die Nacht, dass es ihn beinahe über den Kopf des Gestaltwandlers hinweggeschleudert hätte. Als das Tier dann auch noch kräftig mit den Hinterbeinen auskeilte, war es mit seiner Körperbeherrschung vollkommen vorbei. Mit einem doppelten Salto wurde er vom Pferderücken katapultiert. Der Freiflug in die stürmische Gischt des Atlantiks folgte. Eiskalt schlugen die Wellen über ihm zusammen. Mit den Rippen knallte er gegen Felsen, verlor vor Schmerz fast das Bewusstsein. Luft! Er musste an die Wasseroberfläche! Sofort! Aber er hatte keine Ahnung, wo links, rechts, oben oder unten war.

In diesem Moment tauchte direkt vor ihm das Maul eines Tieres auf. Er widerstand dem Impuls, zu schreien.

Das Maul, das sich jetzt vor ihm öffnete und ihn am Arm packte, gehörte … einer Robbe?

Ein Ruck ging durch seinen Körper, das Tier zog ihn mit sich … Oberfläche.

Luftschnappen!

Wasserschlucken …

Er hustete, versuchte gegen die stürmische See anzuschwimmen. Die Robbe half ihm dabei. Endlich spürte er Boden unter den Füßen. Aber die Kraft verließ ihn. Er wurde von den Wellen nach vorne geworfen, stolperte, fiel auf die Knie. Vergebens versuchte die Robbe, ihn an das sichere Land zu ziehen. Keine Chance. Er war für das Tier einfach zu schwer. Wieder schluckte er eine Ladung des Salzwassers.

Als er den Kopf hob, um nach Luft zu schnappen – was seine Rippen mit einem stechenden Schmerz quittierten – sah er, wie die Robbe sich aufrichtete, ihr Fell abwarf … und eine Frau mit langen, blonden Haaren vor ihm stand.

Heiliger Strohsack, eine Selkie!

Sie packte ihn unter den Achseln, zog ihn auf die Beine, legte seinen Arm um ihre Schultern und stolperte mit ihm dem sicheren Land entgegen. Wo nahm eine so zierliche Person, nur solch eine Kraft her?

Unweit des Black Rocks, erreichten sie den Strand. Die Erschöpfung zwang ihn in die Knie. Ein-, zweimal durchschnaufen, dann ließ er sich zur Seite fallen und setzt sich auf seine vier Buchstaben. Die Arme, schwer wie Blei, legte er auf seine Knie ab. Er sah zu seiner Retterin auf, die ihm den Rücken zugewandt hatte und gerade dabei war, im Wasser nach … ihrem Fell zu angeln. »Vielen Dank, das war echt knapp!«, rief er gegen den noch immer recht starken Sturm an.

Kurz blickte sie über die Schulter zu ihm zurück. »Es heißt: Letztendlich wendet sich alles zum Guten.«

Er wollte noch etwas sagen, aber da warf sie sich ihr Fell über und … verschwand in den Fluten des Atlantiks.

Na so etwas.

Mit einem Schnaufen rappelte er sich auf. Man, er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht. Zu den schmerzenden Rippen gesellten sich durch Nässe und Kälte noch ordentliche Gliederschmerzen. Er schleppte sich vom Strand hoch zur Upper Salthill Road. Wenn er jetzt an die ganze Strecke dachte, die er zu Fuß zurück zu Ruby marschieren durfte … 

Aber vielleicht hatte er ja Glück und es war um diese frühe Stunde schon jemand unterwegs, der ihn mitnehmen konnte.

Tatsächlich kam nach ein paar Minuten ein sehr bekannter alter hellblauer Ford FK 1000 auf ihn zu gerumpelt. Erleichtert winkte er Ruby zu.

Sie hielt an, beugte sich hinüber zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. »Gütiger Gott, mein Junge«, empfing sie ihn. »Was ist passiert? Hast du dir etwas getan? Du siehst ja grauenhaft aus.«

»Alles gut, ich bin okay. Der Púca hat sich nur sehr plötzlich mit meinem Abwurf dazu entschieden, dass es jetzt genug wäre mit diesem Höllenritt.« Die schmerzenden Rippen brauchte er ja nicht unbedingt erwähnen.

»Ich fahre dich ins Krankenhaus.«

»Das ist nicht nötig, wirklich nicht«, beteuerte er.

»Papperlapapp, mein Junge, sei vernünftig.«

»Bin ich doch. Ich wurde ins Wasser abgeworfen, das hat Schlimmeres verhindert, was sollte ich im Krankenhaus?«

Ruby warf ihm einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich.«

Trotz seiner Rippenschmerzen musste er schmunzeln. »Du kennst mich doch.«

»Dann mache ich dir aber wenigstens noch ein stärkendes Frühstück.« Und etwas leiser fügte sich hinzu: »Das ist das Mindeste, das ich für dich tun kann.«

Er lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Da sage ich nicht nein. Deine Eier mit Speck sind unschlagbar.« Und im Stillen wünschte er sich, noch einmal der Selkie zu begegnen, um ihr vernünftig dafür danken zu können, dass sie ihm das Leben gerettet hatte.

 

Tja, und so war es dann auch tatsächlich gekommen. Allerdings blieb ihm der Mund offen stehen vor Staunen, als er zwei Jahre später mit Brendon auf dem großen Picknick an der Salthill Promenade gewesen war, dass damals die Galwayer Polizei veranstaltete und er dort unverhofft seiner Lebensretterin gegenüberstand.

 

»Meinen Chef James Henderson kennst du ja bereits.« Brendon deutete zur Selkie, die neben dem Superintendenten stand und ihn anlächelte. »Das ist seine Frau Lynn.«

»Mrs Henderson.« Er reichte ihr die Hand und schüttelte diese. »Michael O’Hara, es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

 

Ob Henderson eigentlich wusste, dass es sich bei seiner Frau um eine Selkie handelte? Er konnte es nicht sagen. Seit dem Picknick hatte er sie meist nur bei größeren Gesellschaften wiedergesehen, sodass er bis heute nie eine passende Gelegenheit gefunden hatte, ihr einmal richtig zu danken.

Michael fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und schaute erneut auf seine Armbanduhr. 22:48. Langsam wurde es aber echt Zeit, dass Brendon und Alex auftauchten. Die anderen warteten bestimmt schon im Paddy’s auf sie.

Wie auf Kommando erklangen Schritte. Und er hörte, wie die beiden sich miteinander unterhielten. Na endlich. Michael erhob sich von seinem Stuhl. Dann konnte es ja endlich losgehen.